Montag, 8. April 2013

Stuck Inside of Moville


Es ist bereits Abend als Violinistin Kerstin Becker und ich den Dubliner Flughafen verlassen und der M1 Richtung Belfast folgen. Irgendwann biegen wir ab nach Westen, fahren übers Land, überschreiten die unsichtbare Grenze zu Nordirland und passieren Orte, die Armagh oder Omagh heißen. Während sie im restlichen Europa immer mehr aus dem Fokus gerät, ist die konfliktreiche Geschichte Irlands in dieser Gegend weiter am Leben. Die karge Straße, die gesäumt ist mit Sträuchern und Grasbüscheln, führt uns durch die Ulster Landschaft mit ihren hingeworfenen Hügeln. Wir fahren durch Orte, von deren Häusern, Gebäuden und Laternenpfählen je nach überwiegender Gesinnung die englische St. Georgs-Flagge flattert oder Plakate hängen, die für Sinn Feín und die IRA werben. Auf dem Weg nach Derry ist der Namenszusatz ‘London’ von den meisten Hinweisschildern geschabt. Wir sind am Lough Foyle angekommen, am Fuß der Halbinsel Inishowen, dem nördlichsten Zipfel der Republik Irland. Politik, Mythen und Geschichten sind hier allgegenwärtig. Hier öffnet der Lough sein Maul zum offenen Atlantik. Irgendwo in weiter Ferne liegt New York.

Gegen elf Uhr ist es in Moville immer noch hell. Der Ort liegt unter einem gelb-grauen Abendhimmel auf einem kleinen Hügel, der zum Meer abfällt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts legten von hier die Dampfschiffe der britischen Reederei Anchor Line ab. Auf ihnen fuhren tausende von Auswanderern, auf der Flucht vor den Hungersnöten, einer ungewissen Zukunft entgegen. 1981 nahm Bob Dylan sein Album Shot of Love auf. Im selben Jahr entführten sieben IRA Männer einen Lotsendampfer mitsamt Steuermann aus dem Moviller Hafen, beluden ihn mit Sprengstoff und fuhren damit zur Nellie M, einem mit Kohle im Wert von einer Million Pfund beladenen Handelsschiff, das im Lough ankerte und auf die Flut wartete. Sie zwangen die Besatzung in ein Rettungsboot und verteilten den Sprengstoff auf dem gesamten Schiff. Es wird berichtet man habe die Explosion und das Feuer noch mehrere Meilen entfernt gesehen.

Nachdem wir Instrumente und Gepäck im Haus unserer Gastgeberin Catherine verstaut haben, stehen wir wieder vor dem Haus. In wenigen Minuten wird das Schwarz über dem Lough Foyle die Oberhand gewinnen. Von da wo wir sind sieht es aus, als verschwände die Foyle Street direkt im Wasser. Wir beschließen noch ins Rosatos zu gehen, das sich zwei Ecken weiter befindet. Der Pub ist gut gefüllt. Das Musik-Duo, an dem wir uns vorbeidrängen, spielt gerade It’s All Over Now, Baby Blue. Wir lassen uns zwei Pints Guinness geben und genießen mit den ersten Schlucken das behagliche Gefühl, angekommen zu sein.
Neben mir steht Gerry McLaughlin, der Organisator des Festivals, der uns nach Moville eingeladen hat. Das Gespräch kreist sogleich um Dylan. Neben ihm steht Brendan, der mit Tochter und deren Freund von Nordirland aus in seinem Segelboot quer über den Lough gesegelt ist, er sagt er sei schon zum sechsten Mal hier und es gäbe Gerüchte der Meister selbst solle dieses Jahr nach Moville kommen. Inkognito und unerkannt. Die Menschen um mich herum sprechen andächtig von Dylan als hegten sie den Traum schon lange, Dylan möge Höchstselbst auf seinem eigenen Festival im irischen Moville erscheinen. Jemand fasst mich an der Schulter und als ich mich umdrehe ergreift ein dünner älterer Mann meine Hand und sagt eindringlich ‚Do you love Bob Dylan? Is there love in your heart for him?’ Sein Blick hakt sich in meinem fest. Das ist ein Traum, denke ich unwillkürlich. Was kann man auf eine solche Frage entgegnen? Das Duo hat aufgehört zu spielen. Ein stämmiger, großer Mann um die Siebzig mit rotem Gesicht und weißen Haaren bahnt sich an mir vorbei seinen Weg zur kleinen Bühne am Kamin. Alle Augen folgen ihm und der dünne Mann lässt meine Hand frei. Als er dort steht beginnt er sogleich, die Arme ruhig an seinen Seiten hängend, Danny Boy zu singen. Alle im Pub erheben sich mit ihren Gläsern in den Händen und singen. Ein inbrünstiger Chor ungleicher weiblicher und männlicher Stimmen. Vielleicht das berühmteste irische Lied überhaupt, das Abschied und Wiederkehr besingt, in Erinnerung an die Zeit der großen Hungersnot, die Melodie entlehnt der nordirischen Nationalhymne A Londonderry Air. Jemand neben mir dreht sich zu mir um und sagt ‚You know who that is? That’s John Hume!'

In einer landesweiten Umfrage wählten die Iren im Jahr 2010 John Hume zur bedeutendsten Person in der irischen Geschichte. Der in Derry geborene nordirische Politiker bekam 1998 gemeinsam mit David Trimble von der protestantischen Partei Nordirlands den Friedensnobelpreis verliehen. Über viele Jahre hinweg hat er unermüdlich daran gearbeitet Sinn Féin und die IRA zu Waffenstillstandsverhandlungen zu bringen. Das Karfreitagsabkommen von 1998 trägt auch seine Handschrift. Das war also John Hume. In einem kleinen Pub auf Inishowen. Auf einem Dylan-Festival. Auf dem in einer Ecke des Pubs Dylan vielleicht selbst anwesend war, wie so manches Mal verkleidet mit falschen Haaren unter einer Kapuze. Nach einem zweiten Lied geht Hume zurück an seinen Tisch auf dem ein halbes Glas Rotwein steht. Man macht ihm ehrfürchtig Platz. Das Duo greift zu den Instrumenten und spielt die nächste Dylan-Nummer.

„John lebt jetzt in Moville“, sagt McLaughlin später. „Einmal erzählte er mir eine Geschichte darüber, wie Martin McGuinness, der jetzt stellvertretender Ministerpräsident Nordirlands ist, in die IRA eintrat.  Die beiden wuchsen gemeinsam in Derry auf und kannten sich seit ihrer Kindheit. McGuinness‘ Mutter rief ihn an und bat ihn herüber zu kommen und mit ihrem Sohn zu sprechen, um ihm die IRA auszureden. Aber John kam zurück zu und sagte ihr, er habe nichts ausrichten können.“ – „Doch, John!“ habe McLaughlin ihm daraufhin gesagt, „letztendlich hast Du etwas ausgerichtet, Du hast es getan. Letztendlich.“ Es erinnere ihn an den alten James Cagney Film Angels With Dirty Faces, sagt McLaughlin. Zwei Jungs, die gemeinsam in New York aufwachsen und deren Leben sich in gegensätzliche Richtungen entwickelt. Der eine wurde ein Gangster und landete schließlich auf dem elektrischen Stuhl, der andere wurde Priester. „Ich denke, das würde doch einen guten Film machen, oder nicht?“, sagt er, „zwei Jungs aus Derry, die sich für unterschiedliche Richtungen entscheiden. Der eine für den Weg der Gewalt, der andere für den Frieden und am Ende kommen sie zusammen und ziehen am selben Strick.“

Das Duo spielt jetzt My Back Pages. Hinter Hume hängt ein Bild in Öl, das ein Fischerboot auf dem Meer zeigt. Links an der Wand hängen in diffusem Licht noch weitere Bilder, gemalt mit demselben Pinsel in matten dunklen Tönen. Sie sind beeindruckend und wirken, als hingen sie dort schon ein Menschenleben. Ich erkundige mich an der Bar und erfahre, dass sie von einem gewissen Cathal Cavannagh gemalt sind und ihn als alten Mann zeigen, hier und da gemeinsam mit seinen Freunden, die er ebenfalls als alte Männer auf die Leinwand gebannt hat, alle drei still am Tisch sitzend mit einem Glas Bier vor sich und einem Blick, der nicht rückwärtsgewandt scheint, als seien sie froh, endlich dort am Tisch angekommen zu sein, in einem Alter, in dem man sich nicht mehr mit Plänen, Träumen und verflossenen Lieben herumplagt. Ein Gast aus Schottland, der jedes Jahr auf dem Festival ist und sich mit den Gegebenheiten auskennt sagt, Cavanagh schaue jeden Abend hier vorbei, bevor der Pub schließt. Irgendwann spät abends ist es soweit. Ein Mann Mitte Dreißig kommt herein, der Schotte nickt mir zu und es macht den Anschein, als habe er noch in weiteren Pubs Halt gemacht. ‚Can you play Oh Sister?, fragt er an die Musiker gewandt und sitzt wenig später in sich versunken am Tisch unter dem Gemälde, das ihn als alten Mann zeigt.

Am nächsten Morgen sitzen wir im viktorianischen Wohnzimmer unserer Gastgeberin und gehen das Programm und die Arrangements durch. Sie sagt, die letzten Jahre sei hier mehr los gewesen, aber das liege wohl an der allgemeinen wirtschaftlichen Lage.
Das ‚Stuck Inside of Moville’ auf Inishowen am Rande der alten Welt ist auf dieser Seite des Atlantiks das größte Festival auf dem Dylan-Musik gespielt wird. Das sagen sie in Moville. Größer ist nur noch das alljährliche Dylan-Fest in Hibbing, Minnesota, der Stadt, in der Dylan aufwuchs und auf der High School seine erste elektrische Band The Golden Chords gründete, nicht lange bevor er an einem verschneiten Wintertag in New York City ankam. Im damals kältesten Winter der vorangegangenen 17 Jahre. Seit nunmehr sieben Jahren spielen hier in Moville jeden Sommer und über vier Tage lang einheimische und internationale Musiker in Pubs und auf den Straßen die Songs von Bob Dylan. Aber warum um alles in der Welt Moville? Warum Bob Dylan?

‚Ich kam 2002 hier an’, sagt Gerry McLaughlin, der zuvor in London, Hamburg, Paris und Amsterdam gelebt hatte. ‚Mir fiel auf, dass es viele Dylan Fans in der Stadt gab. Seine Musik lief oft in Jukeboxen und wurde ständig live gespielt. Es stellte sich heraus, dass ein ehemaliger und nun pensionierter Lehrer das Feld bereits bereitet hatte. Man nennt ihn Paddy The Shoe, in Wirklichkeit heißt er Paddy McLaughlin. Er ist ein großer Dylan-Verehrer und hatte einen nachhaltigen Einfluss auf die musikalische Entwicklung mehrerer Generationen von Schülern. Also dachte ich mir, warum nicht ein Dylan-Festival.’
Sechs Wochen später waren die Straßen und Pubs von Moville gefüllt mit Dylans Musik. Selbst die berühmte irische Dave Fanning Show warb für das Event und es kamen Leute von weither.

Für die Leute von Moville ist das Dylan-Fest auch ein ökonomischer Faktor. In dem Städtchen, dessen bunt bemalte Häuser auf eine alte Fischerei-Tradition blicken, ist die Arbeitslosigkeit mittlerweile auf einem Stand von nahezu 30 Prozent, einer Rate, wie McLaughlin sagt, die an den Höhepunkt der Großen Depression erinnert. Die für die Region wichtige Lachsfischerei wird heutzutage von Greencastle aus betrieben. Im Nachbarort gibt es einen kommerziellen Fischereihafen. Auch der Tourismus sei angesichts der wirtschaftlichen Lage stark zurückgegangen. Die Besucher, die für das lange Dylan-Wochenende nach Moville kommen sind wichtig für die örtlichen Pubs, Bed & Breakfasts und Hotels, von denen bereits einige schließen mussten. So wichtig, dass McLaughlin vor ein paar Jahren auch das Beatles-Fest ins Leben rief, das sich traditionell eine Woche an das Dylan-Event anschließt. Als prominentesten und jährlich wiederkehrenden Gast gewann er Tony Bramwell, Autor von Magical Mystery Tours: My Life With The Beatles, den ehemaligen Roadmanager der Beatles und späteren Vorsitzenden von Apple Records und Polydor Records. Bramwells drei absoluten Lieblingsorte auf der Welt, so zitiert ihn McLaughlin aus einem Zeitungsinterview, sind Nashville, Hawaii und - Moville.

Nach unserem Konzert im Sean Ti in Greencastle am anderen Tag sitzen wir am Ende des Abends bei der letzten Runde zusammen an einem großen runden Tisch, eine Hängelampe über der Mitte. Im übrigen Raum sind die Lichter schon aus. Darunter Gerry McLaughlin, der Journalist Caoimhinn Barr, der für den Inishowen Independent schreibt und mich in der Pause interviewt hat, der Video-Künstler Ciaran Keogh, ein schottischer Dylan-Fan, Kerstin Becker und zwei, drei weitere Gäste. Wir sprechen über Dylan und die Dinge, die seine Musik bewegt hat. „Die Kunst ist tot!“, sagt McLaughlin irgendwann. „Es gibt nichts Neues mehr.“ Und irgendwie hat er Recht. Vielleicht entsteht etwas Neues nur aus etwas, das stirbt. Vielleicht haben schon zu allen Zeiten alle von einander genommen, sich zu eigen gemacht und weitergegeben. Möglicherweise gab es nie etwas wirklich Neues, nur etwas, das zu bestimmten Zeiten populär wurde. Jedenfalls hängt die Kunst quicklebendig an den Wänden des Rosatos. Sie tönt durch die Straßen eines kleinen irischen Städtchens auf Inishowen, mit seinen Originalen, die an Figuren aus Dylans Feder erinnern.
Und es würde nicht wundern, käme jemand mit Kapuze tief ins Gesicht gezogen und ein paar Strähnen falschen Haares hervorschauend durch die Türe, gerade jetzt in diesem Augenblick, während die Barkeeper daran sind aufzustuhlen und den Raum auszufegen - für einen neuen Tag mit Dylans Musik. Dieser Jemand würde mit Sicherheit einen Blind Willie McTell Blues schmettern und anschließend Cavanagh das Bild abkaufen, das ihn als alten Mann zeigt.



© M. Moravek 

Moville on Wikipedia 
DylanFest on the Lough 

Das nächste Stuck Inside of Moville findet statt vom 21. August bis 24. August 2014